Wir freuen uns sehr über den ersten Gastartikel von Verena Wagner
Heimaten – warum Heimat einen Plural braucht
Meine erste Heimat – oder was ich für mein Zuhause hielt – ist in der Ferne verschwunden. Später dann ist auf meinem inneren Bildschirm eine neue erschienen. Aber erst einmal waren sie weg, der schöne Mischwald und die Wiesen, die langen Nachmittage in der Siedlung, all die anderen Dorfkinder.
In der neuen Stadt konnten wir uns nicht alleine bewegen, wollten das auch gar nicht. Sie flößte Respekt ein. Rom war ein tobender, brodelnder Moloch von Autokolonnen, Häusern, Monumenten, endlosen Straßen mit knatternden Motorrädern, Verkehrschaos, Antennenwäldern, Smogwolken und Asphalt.
Die Hitze war so einnehmend in diesem ersten August, dass ich mir jeden Tag eine kalte Badewanne einließ, mich fast stündlich zur Abkühlung hineinlegte und an meinen kühlen Wald dachte. Statt Haus und Garten eine Wohnung mit Terrassen und Durchzug? Statt Wald in nicht mal einer Stunde am Meer und in den Ruinen der Antike?
Es war nichts schlecht am neuen Leben, nur anders. Das Beste aber war – wie sich Jahre später herausstellte – es eröffnete mir den Zutritt zur Multiplikation von Heimat – einem Begriff, der im Deutschen an sich keinen Plural hat. Vom zweiten Zuhause an war mir schon in Jugendjahren implizit klar, dieser Terminus ist ein Gefühl. Mit ihm erwächst eine Liebe zu Orten und seinen Menschen, die auf der ganzen Welt erblühen kann. In Worte fassen konnte ich das erst sehr viel später – aber es funktionierte sofort. Wo ich mein Herz verlor, traf ich eine neue Heimat, fühlte mich daheim.
Sprachlos?
Sprachen sind der Ausdruck meiner Heimaten. Während ich meine ursprüngliche Mundart beim ersten und schwierigsten Tausch der Heimat schnell verstecken wollte und es vorzog, Hochdeutsch zu lernen, blieb mein Bruder beim Bayrischen. Ihm war das egal, mir nicht. Ich wollte dazu gehören, so sein wie sie, die neuen Kinder an der Deutschen Schule Rom, eine Parallelwelt und mein neues Zuhause außerhalb der Geborgenheit meiner Familie.
Italienisch wollte ich erst mal nicht sprechen. Lernen schon, ich saugte es auf. Es gefiel mir. Obwohl ich wie meine Eltern immer gern im Sommer ans Meer gefahren war, und die Italiener, die wir kennenlernten, ins Herz schloss, weil sie so offen und herzlich zu uns Kindern waren und das, obwohl ich damals kein Wort verstand.
Schon damals – lange vor dem Umzug – murmelte ich die Sprachmelodien aus meinem Comicsprachbuch. Erst hockte ich auf einem Klappstuhl vor dem Campingzelt, dann in der Hängematte vor der Toskana-Ruine, festgemacht zwischen zwei knorrigen Oliven, im Hain, der gar nicht antik und lateinisch war, sondern überwuchert von der Macchia, dem Gestrüpp des Südens. Aber heilig war er mir von Anfang an.
Doch als ich dann die Heimat ernsthaft wechselte, mir die neue überstreifte wie eine frische Unterhose, da wurde es mir zu viel.
Ich stellte zunächst fest: Die Sprache lässt sich nicht wechseln wie verschwitzte Unterwäsche. Die Sprache ist ein Zuhause, das bleibt. Dass wir fähig sind, mehrere Fremdsprachen zu beherrschen, war für mich später der Beweis, den ich brauchte, dass ich nicht bei meiner einen Heimat bleiben muss. Wenn Sprache Heimat ist, musste ich sie wechseln, um eine neue Mutter zu kriegen. Fremde Sprachen zu neuen Müttern machen? Bei einer Mutter fühlst du dich daheim.
Dass mein begeistert in seinem Job römisch lernender Vater zu Tisch italienische Konversation wollte, verweigerten mein Bruder und ich. Sprache war die Hochburg, die nicht von außen erobert werden durfte, deren Zugbrücken wir selbstbestimmt öffnen oder schließen wollten. Sprache war der Rückzugsort, die Insel der Erinnerung. Die durfte niemand klauen, sich ihrer bemächtigen. Irgendwas wollte ich doch festhalten vom alten Leben, denn sonst entglitt mir das Steuerrad. Sprache war heilig. Und ich wollte bestimmen, welche.
to be continued …
Autorin: Verena Wagner
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